Kurz vor 22 Uhr öffnet Alexandre Schmid eine Seitentür des Turms der Kathedrale von Lausanne. Nicht aus Abenteuerlust oder um einen besonderen Blick auf die Stadt zu erhaschen. Für ihn ist es der Weg zur Arbeit, denn Alexandre ist der Nachtwächter von Lausanne.
Wir folgen ihm hinauf: 151 (oder sind es 153? – Die Zahlen widersprechen sich.) Steinstufen führen spiralförmig nach oben, vorbei an jahrhundertealten Mauern, bis wir die erste Plattform des Glockenturms auf einer Höhe von etwa 30 Metern erreichen. Hier oben, in einer winzigen Türmerstube mit einem Klapptisch, zwei Hockern und einem Bett, wird Alexandre die nächsten vier Stunden verbringen.
Wenn die große Glocke zur vollen Stunde schlägt, tritt der 33-jährige französischsprachige Schweizer auf den Rundgang hinaus und formt seine Hände zum Trichter.
„C’est le guet, il a sonné dix, il a sonné dix“
ruft er in die Nacht hinaus. „Das ist der Türmer, es hat zehn geschlagen“, schallt es in alle vier Himmelsrichtungen.
Der Nachtwächter von Lausanne – Einzigartig in ganz Europa
Lausanne ist wahrscheinlich die einzige Stadt in Europa und mit Sicherheit die einzige in der Schweiz, die noch ganzjährig einen Nachtwächter beschäftigt. Während die Tradition andernorts höchstens saisonal für Touristen wiederbelebt wird, ist der „Guet” – so wird der Nachtwächter in Lausanne genannt – ein fester Bestandteil des städtischen Lebens geblieben.
„Es war nicht mein Kindheitstraum, Turmwächter zu werden“, erzählt Alexandre, während er es sich in seiner kleinen Stube bequem macht. „Aber vor eineinhalb Jahren las ich eine Stellenanzeige und dachte, das klingt perfekt für mich. Ich mag meine Stadt. Ich interessiere mich für ihre Geschichte.“
Der studierte Historiker wuchs zwischen Lausanne und Yverdon auf und arbeitete zunächst in der Gastronomie. Als die Stadt den neuen Nachtwächter suchte, zögerte er nicht lange. „Ich benötige eine laute Stimme, aber das ist nicht das Entscheidende. Es ist wichtiger, dass ich die Stadt liebe und gern mit Gästen hier oben bin.“
5 Fakten zur Tradition der Nachtwächter von Lausanne
Historie: Erste Erwähnung 1405, urkundlich belegt
Arbeitsort: Plattform 1 (ca. 30 m) auf dem Glockenturm (Tour du Beffroi) der Kathedrale von Lausanne
Arbeitszeit: 22:00 bis 2:00 Uhr, fünf Tage pro Woche für Nachtwächter (Guet) Alexandre Schmid, zwei in Vertretung
Teamwork: Sieben Personen teilen sich den Job als Nachtwächter, Alexandre Schmid ist der Haupt-Türmer
Arbeitgeber: Stadt Lausanne
Besonderheit: Einzige Schweizer Stadt mit ganzjährigem Nachtwächter
Besichtigung vereinbaren: Alle Infos (in französischer Sprache)
Lausannes Türmer – vom Feuerwächter zum Traditionshüter
Der Grundstein für die gotische Kathedrale Notre-Dame, von der aus Alexandre seine nächtlichen Rufe erschallen lässt, wurde im 12. Jahrhundert gelegt. Ursprünglich waren Glockenturm und Kirchenschiff zwei getrennte Gebäude, zwischen denen ein Handelsweg verlief. Erst später wurden sie miteinander verbunden. Heute ist die ehemalige katholische Kirche reformiert und heißt offiziell „Kathedrale von Lausanne”.
„Im Mittelalter wurde Tag und Nacht bewacht“, erklärt Alexandre und beschreibt damit die Geschichte seines Berufs.
„Eine der ursprünglichen Aufgaben war es, zu beobachten, ob es irgendwo in der Stadt einen Notfall gab. Direkt nach dem Entdecken einer Gefahrensituation musste er eine besondere Notfallglocke dreimal schlagen. Vor allem ging es darum, Feuer rechtzeitig zu entdecken.“
Doch die Weiterentwicklung der Kommunikationstechnik machte den Beruf des Nachtwächters und Türmers irgendwann überflüssig. „In den 80er Jahren gab es in Lausanne den letzten Fall“, erinnert sich Alexandre. „Es gab damals ein Feuer in einem Tanzlokal nahe des Waldes. Zum Glück brannte es selten. Als ich ein Kind war, habe ich hier nie ein Feuer gesehen.“
Und heute? „Wenn ich jetzt ein Feuer entdecken würde, würde ich die Feuerwehr anrufen“, lacht er. „Ich glaube, die Menschen wüssten gar nicht mehr, was der Glockenschlag der Notglocke bedeutet.“
Arbeitsplatz Glockenturm: Der ungewöhnliche Arbeitsalltag eines Nachtwächters
An fünf Tagen pro Woche steigt Alexandre die steile Wendeltreppe hinauf. In der Türmerstube, die sich direkt neben den zwei großen Glocken auf dieser Turmebene befindet, verbringt er die Zeit zwischen den stündlichen Rufen meist lesend. „Schlafen kann man hier nicht. Die Glocke ist genau hinter meiner Türmerstube. Es ist zu laut.“
Um 2:15 Uhr fährt er nach Hause und geht direkt zu Bett. „Das geht“, sagt er pragmatisch. Dass er eher ein Nachtmensch ist, kommt ihm dabei zugute. „Ja, schon ein bisschen. Vielleicht als ich jünger war mehr.“
Ruf und Technik des Nachtwächters von Lausanne
Uhrzeiten: Der Ruf ertönt direkt nach dem Glockengeläut kurz nach 22.00, 23.00, 00.00, 1.00 und 2.00 Uhr
Französischer Text: „C’est le guet, il a sonné dix, il a sonné dix.“
Deutsche Übersetzung: „Das ist der Türmer, es hat zehn (elf, zwölf, eins, zwei) geschlagen“
Technik: Kein Verstärker. Hände zum Trichter formen für bessere Schallverteilung
Richtungen: Nach allen vier Himmelsrichtungen. Der Nachtwächter dreht eine Runde auf dem Rundgang des Glockenturms.
Filzhut, Friesennerz und Türmerstube: Wie Lausannes Nachtwächter Wind und Wetter trotzt
Auch im Winter, bei Wind und Kälte, versieht Alexandre Schmid seinen Dienst als Türmer. „Zum Glück gibt es in der Türmerstube eine kleine Heizung. Ich muss nur raus, um die Zeiten zu rufen, und dann kann ich zurück ins Warme.“ Seine warme Jacke – manchmal ein gelber Friesennerz – und der charakteristische Filzhut schützen ihn vor der Witterung.
Hat er schon einmal eine Zeit verpasst? „Es ist kompliziert, die Glocken nicht zu hören. Und ich muss immer direkt nach ihnen rufen“, schmunzelt er. „Aber der Nachtwächter vor mir war inzwischen so sehr an die Glocken gewöhnt. Er hat ein Buch gelesen und war so darin vertieft, dass er tatsächlich das Rufen verpasst hat.“
Ein Gefühl von Heimat
Bevor wir gehen, wollen wir noch wissen, was Alexandre antreibt, denn die fast täglichen Nachtschichten bei Wind und Wetter und in relativer Einsamkeit erscheinen trotz aller Nostalgie doch recht hart. „Es geht um die Identität der Leute aus Lausanne“, erklärt Alexandre das Aufrechterhalten der jahrhundertealte Tradition. „Sie fühlen sich zuhause, wenn sie mich hören.“
Oft wird er auf seinen ungewöhnlichen Beruf als Türmer und Nachtwächter von Lausanne angesprochen. Aber bekommt er auf dem Turm überhaupt Reaktionen seiner Zuhörer:innen mit? „Manchmal applaudieren sie. Es ist schöner, wenn die Leute mich hören, aber so wichtig ist das eigentlich nicht für mich.“
Die Stadt Lausanne war schon immer verantwortlich für die Finanzierung des Nachtwächters. Alexandre arbeitet hauptberuflich in dieser Position – für die seltenen Urlaubstage gibt es Vertretungen aus seinem siebenköpfigen Team.
„Bin ich ein Schauspieler, Stadtführer oder Wächter?“, wiederholt er nachdenklich unsere Frage. „Ein Wächter. Aber auch ein wenig ein Schauspieler. Das ist eine komplizierte Frage.“
Europäische Nachtwächter heute
Der Beruf des Nachtwächters ist so gut wie ausgestorben. Nur noch wenige Städte und Gemeinden pflegen diese Tradition oder versuchen sie zumindest für touristische Zwecke am Leben zu erhalten. Die Europäische Nachtwächter- und Türmer-Zunft vernetzt die wenigen aktiven Wächter, die es noch gibt.
Häufiger verbreitet ist, dass die ehemaligen Türmerwohnungen besichtigt werden können. Das ist zum Beispiel im Stadtpfarrturm in Klagenfurt (Österreich) der Fall oder in Rothenburg ob der Tauber. In Zittau (Sachsen) gab es bis vor ein paar Jahren die Möglichkeit in der Türmerwohnung der Johanniskirche zu übernachten. Heute ist sie zu besichtigen.
Einen interessanten Artikel über den Beruf des Türmers haben wir auf KulturAbdruck gelesen.

Rund um die Kathedrale – Zwei Lokale zum Verweilen
Wer den Nachtwächter von Lausanne und seine nächtlichen Rufe erleben möchte, sollte zwischen 22.00 und 2.00 Uhr in der Nähe der Kathedrale sein. Die gotische Kirche selbst ist auch tagsüber einen Besuch wert. Ihr Bau begann im 12. Jahrhundert, und die architektonischen Details erzählen von der wechselvollen Geschichte Lausannes.
Direkt neben der Kirche gibt es einen kleinen Vorplatz, auf dem man sich aufhalten kann. Aber auch in der näheren Umgebung ist der Ruf noch zu vernehmen.
Wir empfehlen auf der Terrasse von Le Barbare an einer heiße Schokolade zu nippen oder im Gartenrestaurant Les Jardins direkt unterhalb der Kathedrale einzukehren.
Le Barbare
Kleine Gerichte der Schweizer Küche und die beste heiße Schokolade direkt an den Escaliers du Marché unterhalb der Kathedrale.
Le Barbare, Escaliers du Marché 27, 1003 Lausanne – Google Maps
Les Jardins
Snacks und Drinks unter bunten Sonnenschirmen, auf einer gepflegten Grünfläche direkt unterhalb der Kathedrale.
Les Jardins, Rue Pierre-Viret 6, 1003 Lausanne – Google Maps
Schönste Zeit Städteguide Lausanne
Die Stadt am Genfersee bietet weit mehr als ihren berühmten Nachtwächter: Das Olympische Museum, die terrassenförmig angelegten Weinberge der UNESCO-Welterbe-Region Lavaux und die lebendige Altstadt machen Lausanne zu einem idealen Ziel für Individualreisende, die sich für Kultur, Architektur, Sport und Traditionen interessieren.
„Jeden Tag ist jemand hier oben“, versichert Nachtwächter Alexandre. „Nicht immer ich persönlich, aber es ist immer jemand da.“ Auch an Weihnachten und Silvester. 365 Tage im Jahr hallt der Ruf des Wächters durch die Gassen von Lausanne und verbindet Vergangenheit und Gegenwart.
So bleibt Alexandre Schmid ein lebendiger Teil einer 600 Jahre alten Geschichte, ein moderner Mensch in einem mittelalterlichen Beruf, der Lausanne seine ganz besondere nächtliche Identität verleiht.
Städtetrip nach Lausanne: UNESCO-Weinberge, Kunst und zeitgenössische Architektur

Die journalistische Recherche für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Schweiz Tourismus, Swiss, Swiss Travel Pass und Lausanne Tourismus.
Sehr zu bewundern,dass die Stadt Lausanne an diesem Brauchtum festgehalten hat.
Reine Rundumsicherung würde ja technisch viel einfacher zu installieren sein und wenn der Nachtwächter um 2 Uhr schlafen geht, können ja dann sozusagen auch die Strolche ihr Werkzeug auspacken
Aber ein bisschen versetzt man sich doch gerne in die Atmosphäre einer mittelalterlichen Gemeinschaft, wenn man als Gegenstück lesen muss, dass gerade erst in Japan ein Einsamkeitsministerium eingerichtet wurde, weil die zunehmende Einsamkeit zu wachsenden Problemen bis hin zu Übersterblichkeit führt.
Es ist wirklich schön und eigentlich doch erstaunlich einfach so ein Stück jahrhundertalte Geschichte beizubehalten.
Schön, dass die Stadt Lausanne den Wert erkannt hat und da hinein investiert.
Es war aber auch sehr beeindruckend, wie überzeugt sich Alexandre seiner Aufgabe gewidmet hat und dafür lebt.